Die Mutter meiner Mutter by Rennefanz Sabine

Die Mutter meiner Mutter by Rennefanz Sabine

Autor:Rennefanz, Sabine [Rennefanz, Sabine]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand
veröffentlicht: 2015-09-13T16:00:00+00:00


8

Von den drei Töchtern ist meine Mutter ihrer Mutter am ähnlichsten, nicht nur vom Äußeren her. Auch ihre Leben ähneln einander, es scheint, als liefen sie zeitversetzt in der gleichen Spur. Wie meine Oma heiratet meine Mutter einen Mann, den sie kaum kennt. Wie meine Oma bekommt meine Mutter drei Töchter. Wie meine Oma verlässt sie Kosakenberg nur, wenn sie muss.

Sie hat nur ein einziges Mal in ihrem Leben rebelliert. Im September 1968, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag.

Seit sie auf die Oberschule geht, ist sie komplett zu Wendlers gezogen. Ihren Eltern hat sie den Umzug so erklärt, dass sie im Nachbarhaus mehr Ruhe zum Lernen haben werde. Nach dem Tod von Bertha Wendler ist die Kammer frei geworden, in der schon Anna geschlafen hat. Was sie ihren Eltern nicht sagt, ist, dass sie sich bei Wendlers viel wohler fühlt, freier vor allem.

Sie ist ein romantisches, ein bisschen altmodisches Mädchen, bis spät in die Nacht liest sie Romane, Anna Karenina ist ihr Lieblingsbuch. Sie träumt von einem Wronski, von einer großen, umwerfenden Liebe.

Sie träumt davon, dass etwas passieren wird, sie schaut stundenlang aus dem Fenster auf den Wald, als würde sie hoffen, dass von dort die Erlösung kommt, ein Windzug, eine Kutsche, ein Raumschiff, das sie davonträgt, weg aus dem engen Dorf, hin zu einer anderen, aufregenderen Welt, in der es Männer gibt, die schön sind, aber auch gefährlich, die schnelle Autos fahren, gute Anzüge tragen und mit Frauen umzugehen wissen.

Ihr Deutschlehrer hat gesagt, sie soll Lehrerin werden, ihre Mutter hat gesagt, sie soll Lehrerin werden, also will sie Lehrerin werden. Im September 1968 beginnt ihr letztes Schuljahr. Meine Mutter interessiert sich eigentlich nicht für Politik. Als die Mauer gebaut wurde, fand sie das gut, sie war elf Jahre alt und nannte sich selbst eine Stalinistin. Später macht sie das, was von ihr erwartet wird, engagiert sich in der Jugendorganisation der Partei genauso wie in der Jungen Gemeinde der Kirche. Erst im Sommer 1968 ändert sich etwas.

Sie verbringt in dem Sommer viel Zeit im Pfarrhaus. Sie hat sich seit der Konfirmation mit dem Pfarrer angefreundet, er gab ihr Bücher, über die sie lange diskutierten. Im Sommer 1968 sprechen sie viel über die Vorgänge in der Tschechoslowakei. Dort will die Regierung die Gesellschaftsordnung reformieren, die sie in den vergangenen zwanzig Jahren eingeführt hat. Mehr Wettbewerb soll es zukünftig geben, weniger Druck und freie Diskussionen. Der Pfarrer ist gut informiert, er hat Freunde in Prag und schwärmt davon, wie viel offener und liberaler die Stimmung im Nachbarland sei. Meine Mutter hört aufmerksam zu. Sie hat gemerkt, dass sich in den vergangenen Jahren etwas geändert hat an der Stimmung im Land, alle haben Angst. Die Feste bei Wendlers sind seltener geworden, es kommen weniger Gäste, und diejenigen, die kommen, wirken vorsichtiger. Jeder scheint jedem zu misstrauen.

Aus der Kreisstadt verschwinden Menschen, ohne dass jemand weiß, was mit ihnen geschieht. Scheinbar unauffällige, unpolitische Menschen wie der Fleischer Frieselang. Der Fahrradhändler Schnitzler. Kleine, privat geführte Geschäfte schließen.

In Kosakenberg haben sich alle Bauern in der Genossenschaft »Felsenfest« zusammengeschlossen – die wenigsten freiwillig.



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